Sehr geehrte Damen und Herren,
vor wenigen Wochen hatten wir persönlich über das Thema „Neufassung der Prüfungsordnung Schwimmabzeichen“ gesprochen und Sie hatten darum gebeten, dass ich Sie über mein weiteres Vorgehen in diesem Zusammenhang informieren möge. Daher sende ich Ihnen heute das Schreiben welches ich ursprünglich an Dr. Andreas Hahn von der Uni Halle geschickt habe.
Ich möchte Sie bitten, den Text den Mitgliedern Ihrer Gremien zuzuleiten.
Vorweg ein paar Hinweise zu meinem „nassen Weg“.
Ich hatte das Glück, mit Ausnahme des Hochschulsports in allen Bereichen des Schwimmens ausführlich tätig sein zu dürfen. Zunächst als Leistungssportler im Schwimmen und Wasserball sowie als professioneller Rettungsschwimmer auf Sylt, danach zehn Jahre als Trainer dieser Sportarten und 35 Jahre als Sportpädagoge im niedersächsischen Schuldienst. Dort leitete ich nebenher einige Lehrerfortbildungen in Sachen Schwimmen und betreibe seit 1977 meine eigene Schwimmschule in Hamburg.
Meine Erkenntnisse zum Unfallgeschehen während der Rettungsschwimmerzeit nahm ich zum Anlass, mich sofort im staatlichen Schuldienst und später in der Schwimmschule vom konservativen Schwimmunterricht abzuwenden – ihn auf den Kopf zu stellen.
Oberstes Ziel war und ist eine möglichst frühe und vielseitige, dabei immer alters- bzw. entwicklungsgerechte Wassersicherheit, die es den Anfängern ermöglicht, die üblichen wassertypischen Notsituationen souverän und angstfrei zu meistern – also die Momente, an denen selbst erwachsene Normalschwimmer regelmäßig kläglich scheitern und anschließend in einer Unfallstatistik auftauchen.
Das Ziel wurde inzwischen von mehreren tausend Kindern bereits im Vorschulalter erreicht. Besonders deutlich macht das seit dem vergangenen Jahr ein neutrales Testverfahren zum Verhalten in brenzligen, wassertypischen Situationen. Sämtliche Inhalte und Ziele sind übrigens in jedem Unterricht, in jedem Bad und in jeder Altersgruppe völlig zeit- und kostenneutral anzuwenden. Es ist also keineswegs Hexenwerk, keine spleenige Idee oder ein theoretisches Denkmodel, sondern ein komplettes, bewährtes Konzept, welches bereits mehrsprachig in Büchern und Filmen sowie in unzähligen Vorträgen und Seminaren (inzwischen weltweit) unter dem Namen Aquapädagogik verbreitet wird. Mehr dazu unter www.aquapaedagogik.org oder www.bvap.de .
Das Ergebnis ist die oftmals auch von Fachleuten ungläubig bestaunte Sicherheit der Kinder – somit für alle beteiligten Lehrer, Eltern und unvoreingenommene Zuschauer eine bedeutsame Steigerung der Kindersicherheit. Dieser Meinung ist auch die Bundesarbeitsgemeinschaft „Kindersicherheit“, die unseren Bundesverband für Aquapädagogik –BvAP vor zwei Jahren ins Boot holte – trotz jahrelanger massiver Gegenwehr der DLRG, die offenbar um ihre vermeintliche Generalkompetenz fürchtete. Auf Seiten des DSV geschieht leider ähnliches, was bei vielen Pädagogen den Eindruck entstehen lässt, es gehe den so genannten gemeinwohlorientierten Schwimmorganisationen vor allem um Machterhalt und weit weniger um die Bewältigung der derzeitigen Misere im Bereich der Schwimmausbildung.
Auch halte ich es für wenig hilfreich, wenn angesichts mehrerer Ertrinkungsopfer an einem Wochenende des vergangenen Jahres allein der angebliche Leichtsinn der Opfer als Ursache genannt wurde – so, wie durch die DLRG für die Sensationspresse erklärt. Wäre es nicht parallel dazu angebracht, mindestens genau so vehement über sinnvolle Veränderungen des eigenen Schwimmunterrichts nachzudenken?
Doch was hat das alles mit der Neufassung der Prüfungsordnung für die Deutschen Schwimmabzeichen zu tun?
Oberflächlich sicher wenig! Bedenkt man jedoch, dass es sich hier meist um Kinder handelt, an die man bei Schaffung der Abzeichen Mitte der Siebziger einfach noch nicht gedacht hat, weil man in erster Linie das Schulschwimmen – damals meist zum Ende der Grundschulzeit durchgeführt – im Blick hatte, sollte eine aktuelle Betrachtung hilfreich sein.
Schwimmen bereits im Kindergartenalter zu unterrichten, hat längst den Hauch der Exotik verloren. Drei- bis Vierjährige können bereits seit vielen Jahren überall dort im Wasser zu Hause sein, wo speziell ausgebildete Personen mit dem nötigen pädagogischen Hintergrund in geeigneten Übungsstätten wirken können. Dabei steht ganzheitliches Lernen im Vordergrund, man möchte in dieser „ersten Schulzeit“ über das Schwimmen hinaus bei den Kindern die generelle Freude an jedem Lernen wecken. Auch wird versucht, ein wenig Zielstrebigkeit und Ausdauer zu fördern, wenn möglich, ohne dabei jeden kleinsten Lernfortschritt mit einem Extrabutton, einer Urkunde oder Medaille belohnen zu müssen. Man möchte also, dass die Kleinen ihre Fortschritte für sich selbst erkennen und gern weiter entwickeln wollen – um ein größeres Ziel erreichen zu können. Und dieses Ziel ist seit rund 40 Jahren als Seepferdchen bekannt und begehrt.
Ob die Fachleute es nun als mehr oder weniger sinnvolles Motivationsabzeichen oder auch als die Lizenz zum Ertrinken bezeichnen – Kindern und Eltern ist es wichtig. Das ist zunächst auch gut so, solange vor allem die Eltern über die damit verbundenen Gefahren eindringlich aufgeklärt werden. Alle Erwachsenen müssen wissen, dass ein „Seepferdchenkind“ noch lange nicht sicher schwimmen kann, es ist eben nur eine erste Zwischenstation erreicht.
Es scheint so, dass die allermeisten Fachleute diese Einschätzung teilen. Einigen fehlt leider (weil sie sich nur mit älteren Schulkindern befassen) das Verständnis für das Lernverhalten der jungen Vorschulkinder, die ihr Können noch an der bisherigen Gruppe, am bisherigen Schwimmbad und vor allem am vertrauten Lehrer festmachen und deshalb in neuer Umgebung im Extremfall den Eindruck erwecken, als wären sie erstmalig im Wasser. An der nächsten Station ein wenig einfühlsam und geduldig zu agieren, würde viel Druck von den Kindern nehmen und bei deren Eltern keine Vorurteile gegenüber dem Vereinssport entstehen lassen. Diesen Kindern stattdessen vorschnell den Stempel des Versagers einzubrennen, um gleichzeitig deren bisherigen Lehrern das sportpädagogische Unvermögen zu attestieren, hat bislang genug Kinderseelen gequält und ihre Eltern in Rage gebracht.
Sieht man die Fähigkeit des Schwimmens als Pädagoge zuerst im Hinblick auf Sicherheit, spätere Lebensqualität und weitere positive Nebeneffekte und nicht nur mit Tunnelblick auf das Sportschwimmen gerichtet, hält man die Forderung nach der Grobform einer Schwimmtechnik in Verbindung mit dem Verbot von Kombinationsübungen oder Freistilbewegungsformen im Hinblick auf frühe Wassersicherheit und vielseitige Schwimmausbildung übereinstimmend für pädagogisch unsinnig, für nicht kind- bzw. entwicklungsgerecht und erkennt darin letztlich auch keine Fortschritte für den Schwimmsport und das Rettungsschwimmen. Insofern fragt man sich, warum hier der DSV für alle Schwimmanfänger sofort eine unnötige Hürde aufbauen will, die unzählige junge Kinder (vorwiegend noch zurückhaltende, zögerliche und ängstliche Kinder) bis weit in die Grundschulzeit hinein eher abschrecken als motivieren werden. Und die Misere im Spitzensport wird dadurch sicherlich auch nicht beendet.
Pädagogen sehen ihre Aufgabe darin, Kindern im Schwimmunterricht zunächst gleichzeitig eine möglichst weitreichende Wassersicherheit, gepaart mit Freude am Wasser und an der Bewegung sowie dem Erwerb einiger wichtiger Sozialkompetenzen zu vermitteln. Schwimmen wird als Kulturwerkzeug für alle betrachtet, auch als Grundlage für sämtliche Wassersportarten und Basis für spätere Lebensqualität in Bezug auf das Freizeitverhalten. In welchen Bewegungsmustern geschwommen wird, ist im Basisbereich sekundär – alles, was zur individuellen Sicherheit und Freude beiträgt, ist zunächst erlaubt und wird erst später (mit fortschreitender Sicherheit und Konzentrationsvermögen) in sportgerechte Bahnen gelenkt, es wird also entwicklungsgerecht gelehrt, so, wie in allen anderen Lernbereichen.
Pädagogen erkennen weiterhin in diesem einzigartigen, weil in einem „anderen, nicht selten beängstigenden Element“ angesiedelten Fachbereich spezielle pädagogische Anforderungen. Denen wollen sie gern gerecht werden – sie wollen aber ausdrücklich nicht auf Kosten ihrer Schützlinge vordergründig als Talentlieferant des Schwimmsports fungieren.
Im Namen der besorgten Sportpädagogen richte ich daher im Hinblick auf zukünftige Schwimmgenerationen als Begründer der Aquapädagogik und BvAP-Präsident folgende Bitte an die beteiligten Verbände und Institutionen, insbesondere die KMK-Sport:
“ Lassen Sie bitte nicht zu, dass nur im Interesse des Sport- und Rettungsschwimmens für alle Schwimmanfänger zusätzliche Hemmschwellen installiert werden. Lassen Sie bitte nicht zu, dass sehr früh sicher und vielseitig schwimmenden Kindern die Belohnung verwehrt wird, weil sie (noch) nicht sportgerecht schwimmen. Verhindern Sie bitte, dass auf Grund der laut DSV angeblich vorgesehenen Änderungen viel Zeit mit überflüssigen Diskussionen zwischen frustrierten Kindern und Eltern sowie „Schwimmstilfetischisten“ unter Trainern, Schwimmmeistern und Lehrern vergeudet wird.
Bleibt noch der Hinweis auf ein Ärgernis, welches ebenso alt wie die aktuellen Schwimmabzeichen selbst ist: Die Anforderungen in Richtung Rettungsschwimmen beim „Goldabzeichen“, genauer gesagt das Transportschwimmen, die Selbstrettung sowie die einfache Fremdrettung.
Speziell dort, wo der inzwischen weit verbreitete Wunsch nach frühem Schwimmen erfolgreich umgesetzt und fortgeführt wird, stehen verantwortungsvolle Pädagogen immer wieder vor folgendem Dilemma: Sie haben zahlreiche Acht- bis Zehnjährige, die sämtliche Anforderungen des „Goldabzeichens“ mühelos bewältigen und verweigern ihren Schülern dennoch den Lohn ihrer Anstrengung: Sie befürchten zu Recht, den Kindern (und ihren Eltern) mit Ausgabe des Abzeichens zu suggerieren, sie könnten im Notfall einen Ertrinkenden retten. Es gehört wenig Phantasie dazu, sich die fatalen Folgen auszumalen.
Zahlreiche Kollegen fragen sich seit Jahren, warum Jugendliche, immer geschützt durch einen stählernen Käfig, diverse weitere Sicherheitselemente und einen Fahrlehrer an der Seite, erst als 17- Jährige mit dem Autofahren beginnen dürfen und warum man andererseits sehr viel früher zulässt, dass sich Kinder und Jugendliche im Wasser einer weitaus größeren Gefahr aussetzen können. Aus sportpädagogischer Sicht handelt es sich hier eindeutig um riskante Teilbereiche einer Spezialausbildung, die zu allem Überfluss die zwingend nötige Eigensicherung außer Acht lässt.
Sicherlich sollte man körperlich, geistig und vor allem psychisch gefestigte Jugendliche damit konfrontieren, um sie in Richtung Rettungsschwimmer auszubilden – unfertigen Kindern ist diese Verantwortung jedoch (noch) nicht aufzubürden. Das ist eine unverantwortliche Überforderung mit nicht abzuschätzendem Risiko.
Daher bietet die anstehende Neufassung der Prüfungsordnung Gelegenheit, die genannten Aufgaben entweder zu streichen und in die speziellen Rettungsschwimmabzeichen einzufügen oder sie zumindest durch geeignete Ersatzanforderungen mit „unverfänglichen Bezeichnungen“ zu ersetzen.
Beharrt man auf den Übungen zum Rettungsschwimmen, könnte man im Sinne der Fairness genauso gut auf die lustige Idee kommen, beispielsweise auch über die Einführung von Übungen des Kunstspringens, Wasserballspiels, Synchronschwimmens, Kenterübungen möglichst vieler Bootsklassen sowie Basisübungen des Tauchsports zu sinnieren – also unter dem Strich: Gleiches Recht für alle zu fordern! Weitaus realistischer erscheint da doch die Forderung, Spezialaufgaben generell aus dem gesamten kindlichen Basisbereich heraus zu lassen.
Mit freundlichen Grüßen
Uwe Legahn